Eine besondere Weihnachtsgeschichte. Über einen Gerichtsmediziner, seine Schokoweihnachtsmannsammlung und seine Frau. Auch für Schokoladenverächter.

Professor Dr. Söder und seine Frau liebten Weihnachten. Darüber waren sich beide einig. Das Paar gehörte zwar nicht zu jenen, die das Fest mit dem Aufhübschen der Fenster durch leuchtenden Schwibbögen, Lichterketten oder Weihnachtssymbole begrüßten. Dennoch freuten sie sich jedesmal auf die freien Tage, die friedliche Stimmung und die Zeit, die jeder für sein Hobby aufwenden durfte.

Dr. Söder verfügte über die wahrscheinlich umfangreichste historische Schokoladenweihnachtsmannsammlung im europäischen Raum. Regelmäßig am Heiligen Abend hingen diverse Schaukästen in der gesamten Wohnung. Systematisch nach Jahreszahl und Ländern sortiert, schmunzelten oder schauten streng, ganze Generationen weihnachtlich gekleideter Hohlkörper auf das besinnliche Geschehen.

Söders Frau konnte einem derartigen Hobby nichts abgewinnen. Sie erfreute sich an der Zubereitung traditionell gekochter Weihnachtsgerichte. Seit vierzig Jahren hatte sich an diesem Ritual nichts geändert. Wenn es nach dem Gerichtsmediziner Dr. Söder gegangen wäre, hätte er den Karpfen in seiner Wanne in den nächstbesten See oder Tümpel freigelassen. Keine Frage der Tierliebe, sondern eindeutig der Versuch, sich den Kochkünsten und Bevormundungen seiner angeblich besseren Hälfte zu entziehen.

Am Heiligen Abend gab es Karpfen, am ersten Feiertag Gans und am darauffolgenden Tag Hasenrücken oder Hirschkeule. Auch in diesem Jahr sollte sich daran nicht ändern. Eine Diskussion war ausgeschlossen, und wenn er doch einmal das Thema ansprach, wies sie auf ihr schwaches Herz hin. Nicht wieder Karpfen flehte der Professor in den Tagen vor dem Fest, wissend, dass weder seine Frau noch eine göttliche Instanz Einsicht zeigen würde. Ginge es nach ihm, könnte es am Heiligen Abend Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen und Gürkchen oder eine klare Hühnersuppe mit Minifrikadellen sowie Weißbrot geben. Aber nach ihm ging es nicht. Seine Frau bestand auf das traditionelle Weihnachtsessen. Wie jedes Jahr zog sie sich am späten Nachmittag in die Küche zurück und schaffte mit der Ermordung des Karpfens vollendete Tatsachen.

Dabei störte den alten Gerichtsmediziner weniger der Fisch, den sie zugegebenermaßen wie keine Zweite zu bereiten verstand, als vielmehr die ständigen Belehrungen, wie er zu filetieren sei. Wenn jemand Ahnung hatte, wie man Körper seziert, dann doch wohl der Chef des gerichtsmedizinischen Instituts.

Um einen gleichmäßigen Schnitt anzusetzen und ein perfektes Y zu schneiden, bedurfte es einer ruhigen Hand. So wie man den Künstler am Pinselstrich erkennt, so lässt sich auch die Arbeit mit einem Skalpell eindeutig dem Meister zuordnen. Ohne einmal zu zögern oder gar nachzuschneiden, trennte er das Gewebe mit einer schwungvollen Bewegung. Die inneren Organe traten an Licht und schienen darauf zu warten, herausgenommen, analysiert, streng beäugt und schließlich gewogen zu werden. Generationen von Studenten bewunderten den Professor für sein chirurgisches Vermögen.

Wochenlang übten sie erfolglos an Freiwilligen, die ihre Körper der Medizin gespendet hatten. Zum Glück erfuhren die Betroffenen nicht mehr, wie angehende Medizinstudenten sie tranchierten.
Keiner erreichte auch nur annähernd die Meisterschaft des Leiters des gerichtsmedizinischen Institutes.

Nur Frau Söder schien das anders zu sehen. Jedes Weihnachtsfest konnte sie es nicht unterlassen, mit ihrem Besteck seinen Job zu übernehmen und kopfschüttelnd zu verkünden: »Fisch wird immer vom Ende zum Kopf hin ausgelöst. Ist das so schwer zu begreifen?«
Dann trennte sie mit dem Fischmesser die Haut vom Karpfen, schob anschließend das dampfende Filet von den Gräten, packte die Schwanzflosse und hob langsam, mit leicht vibrierender Hand das Grätenkonstrukt samt Kopf unversehrt hoch. Nach seiner Ansicht eine pietätslose Metohde. Persönlich hielt er es für richtig, den Fisch vorsichtig umzudrehen, um sich dann dem anderen Filet zuzuwenden. Seinem Einwand, es wäre undenkbar, dass er oder einer seiner hochgeschätzten Kollegen eine Wirbelsäule mit Kopf aus dem Untersuchungsobjekt reißen würde, schenkte sie keinerlei Beachtung.

Aus diesem Grund schwor sich Professor Söder, noch einmal würde er sich nicht vorführen lassen. Soll sie doch den Fisch massakrieren, wie sie es für richtig hielt. Freiwillig hatte er in diesem Jahr am Heiligen Abend den Bereitschaftsdienst übernommen. Erfahrungsgemäß gibt es immer Menschen, die zur friedlichsten Zeit des Jahres über die geringste Beherrschung verfügen und ihren Mitmenschen alles andere als Liebe angedeihen ließen. Tatsächlich klingelte das Telefon, noch bevor der Karpfen gar war. Ein Unglücklicher hatte sich gerichtet oder wurde erschossen. So ganz klar war das den Beamten nicht.

Professor Dr. Söder verabschiedete sich mit unverhohlener Freude von Frau und Fisch. Beleidigt fragte sie, ob die Leiche nicht bis nach dem Essen warten könne. Sein gespieltes Bedauern, das alberne Schulterzucken sowie das wenig überzeugende Kopfschütteln beseitigten jeden Zweifel.
»Das wirst du bereuen«, zischte sie wütend.

Vier Stunden später wusste Professor Dr. Söder, dass es ihre letzten Worte waren. Schon als er die Wohnungstür öffnete, verspürte er ein ungutes Gefühl.

Als er die massakrierten Weihnachtsmänner verstreut auf dem Boden liegen sah, ahnte er Schlimmes. Seine Frau hatte sich in ihrer Wut auf seine historische Weihnachtsmannsammlung gestürzt und beträchtliche Mengen davon verspeist. In der ganzen Wohnung fanden sich gemeuchelte Schokoladenholkörper aus mehreren Jahrzehnten. Den meisten hatte sie den Kopf abgebissen. Der Rest roten Garde war mit einem schweren, stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Zum Teil wurden ihre Körper Opfer kräftiger Hände oder gnadenloser Fußsohlen. Entsetzt betrachtete der Professor seine gemeuchelte Sammlung. Niemand hatte überlebt. Weder der Nikolaus, Knecht Ruprecht, der von Coca Cola eingekleidete Santa Claus noch der winterharte Väterchen Frost oder der deutsche Weihnachtsmann.

Söder starrte abwechselnd in die stumpfen kalten Augen seiner Frau und die des Karpfens. Beide schauten ihn vorwurfsvoll an. Während die Tote wenig elegant auf dem Teppich lag, ruhte der Fisch in einer Semmelkäsekruste, flankiert von zarten Möhrchen und gleichlangen grünen Bohnen, die in Speck gewickelt waren.

Schon immer hatte Söder befürchtet, dass eines Tages seine Sammlung verspeist werden würde. Allerdings rechnete er mit Würmern und Käfern. Um das zu verhindern, hatte er ein starkes, schon lange verbotenes Insektizid mit einer feinen Nadel in die Hohlkörper injiziert. Ein äußerst wirkungsvoller Schutz. Nur für das schwache Herz seiner Frau bedeutete das Vernaschen der süßen Männer ihr Ende.

Ratlos schaute er sich um. Sein Blick fiel auf den liebevoll gedeckten Tisch. Alles war perfekt arrangiert. Schmunzelnd nahm der Gerichtsmediziner Professor Dr. Söder sein Besteck in die Hand. Vorsichtig zeichnete er mit dem Messer ein imaginäres Y auf den Bauch des Karpfens.
Schade um die Weihnachtsmänner, ging es ihm durch den Kopf. Dann trennte er mit einer gekonnten Bewegung das Filet von den Gräten.

 

> Der Autor der Geschichte “Wenn der Weihnachtsmann den Kopf verliert” heißt Stephan Hähnel. Er ist Krimiautor und gebürtiger Berliner, Jahrgang 1961. Stephan lebt im Stadtteil Prenzlauer Berg und hat am 24.12. Geburtstag.

“Wenn der Weihnachtsmann den Kopf verliert” stammt aus dem Buch „Alte Frau zum Kochen gesucht“ von Stephan Hähnel, erschienen im Buchvolk-VerlagIhr könnt das Buch Versandkostenfrei bestellen. Einfach Mail an info@buchvolk.de (ISBN: 978-3-98156 04-2-8) Gibt’s auch als E-Book.

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