„This is the old border station“, erklärt der Vater seiner Tochter. Ich sitze im ICE Richtung nach Hause, Richtung Berlin. Gerade rauschen wir durch den alten Bahnhof der früheren Zonengrenze Helmstedt. Vater und Tochter in der Bankreihe neben mir schauen aus dem Fenster auf die herunter gerockten Gebäude neben den Gleisen. Es fällt mir schwer, den Akzent der beiden zu fassen, vielleicht Australien oder Neuseeland. Aus Gefallen am Klang der Sprache höre ich mit halbem Ohr zu.
Eigentlich redet nur der Vater, wenn auch nicht viel. Mit wenigen Sätzen umschreibt er, was wir alle durch die Zugfenster sehen. „Nice landscape. Only countryside, few small villages until we reach Berlin.” Die Tochter, vielleicht gerade 13 Jahre, schaut mit großen Augen ins Grüne. Ihr erster Besuch in Berlin. Welche Erwartungen sie wohl hat? Ihr Vater kennt sich anscheinend in der Stadt aus. Er erzählt ihr, dass diese Bahntrasse die frühere Zugverbindung aus dem Westen nach Berlin war. Ich selbst fahre diese Strecke auch zum ersten Mal, die ICEs fahren sonst anders an Berlin heran. Aber wegen des Hochwassers im Frühsommer geht das nicht. Nach Helmstedt passieren wir viele kleine sächsisch-anhaltinische und dann brandenburgische Dörfer, dann Potsdam, schließlich fahren wir nach Berlin herein.
Ich lebe seit 8 Jahren hier. Aber heute sehe ich die Stadt mit anderen Augen. Versuche mir vorzustellen, wie das Mädchen die Stadt wahrnimmt. Von Westen kommen wir, die Bahntrasse führt durch Charlottenburg. Hinterhof-Fenster mit improvisierten Blumenkästen, abgebrochene Stuckfassaden, Graffitis, spielende Kinder, Straßenzüge die Alleen gleichen, so viel Grün hat die Stadt. Dann taucht das Theater des Westens auf, prachtvoll mit seiner weißen Fassade, zwei Augenblicke später ein bunter Trupp mit Plakaten und Transparenten: die Hanfparaden-Demo. Jetzt der Tiergarten. Wieder grün, ein schneller Blick auf die Siegessäule. Dort hinten waren Hausboote. Dann tauchen Regierungsgebäude auf, wir fahren in den Hauptbahnhof. Der Zug hält und die Reisenden quellen auf den Bahnsteig. Auf dem ganzen Weg keine Spur von der Mauer und nichts zu merken von der früheren Teilung. Oberflächlich betrachtet. Auf die Schnelle.
Um die Mauer zu sehen, muss man sie gezielt suchen. An der East Side Gallery zum Beispiel, oder der Gedenkstätte Bernauer Straße, dem alten Sektoren-Übergang Checkpoint Charly mit dem Mauermuseum oder der Topographie des Terrors gleich neben dem Gropiusbau nur ein paar Schritte vom Potsdamer Platz entfernt. Doppelreihen aus Kopfsteinpflaster zeigen den früheren Verlauf der Mauer durch die Stadt, aber man sieht das nur, wenn man es auch weiß. So braucht man Menschen, die einen auf Verstecktes aufmerksam machen.
Ich bin fast sicher, dass genau das der Vater tun wird. Er wird seiner Tochter Plätze in Berlin zeigen, die ihn bewegt haben, er wird ihr Geschichten dazu erzählen, die er mit den Orten verbindet. Sie wiederum wird sich später daran erinnern und diese Geschichten vielleicht ihren Kindern erzählen.
Auch wenn die Mauer heute immer noch an einigen Stellen Berlins sichtbar ist: Die Mauer ist weg. Und das, was in den Köpfen bleibt, sollte keine Mauer sein, sondern ihre Geschichte. Und die ist mehr als ihr Bau vor 52 Jahren, befohlen von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik als Bollwerk gegen den Kapitalismus und aus Angst, dass ihnen die Menschen weglaufen. Mehr als der 9. November vor 24 Jahren, wo sich der tiefe Wunsch der Menschen nach Freiheit Bahn brach, entgegen allen Terrors, Schikanen und Furcht einflößenden Gebaren der DDR-Regierung. Zwischen dem 13. August 1961 und dem 13. August 2013 liegen 52 Jahre voller Schicksale, Erlebnisse, Begebenheiten, Zufälle. Die Mauer ist längst Geschichte. Was bleibt, sind Mauer-Geschichten.
© Verführer | Text: Stephanie Schneider | Foto: Marc Tollas / www.pixelio.de (Mauerstück “Der Bruderkuss”) | Foto: Albrecht E. Arnold / www.pixelio.de (Brandenburger Tor 1971) | Foto: Carl-Ernst Stahnke / www.pixelio.de (Gedenkstätte Topographie des Terrors)
Dieser Beitrag gefällt mir sehr. Kann mich gut rein denken, weil ich die Zeit selbst erlebt habe. Das es jetzt so ist wie es ist, freut mich sehr. Ich habe es mir gewünscht und so kam es. -Ohne Krieg und ohne Gewalt.-
Weiter so!
Hanus