Erst die unglaubliche Geschichte. Dann der verrückte “Die-Welt-ist-ein-Dorf-Effekt”. Und zum Schluss die Erkenntnis: Das Beste aus Berlin kann manchmal auch 101 Jahre alt sein. Aber alles hübsch nacheinander. Vielleicht habt ihr auch schon davon gehört. Eine Flaschenpost, versendet von einem Berliner im Jahr 1913. Richard Platz, Jahrgang 1892, war 20 Jahre alt, als er die braune Bierflasche ins Meer warf, versehen mit einer dänischen Briefkarte und der Bitte, diese an ihn in den Baumschulenweg nach Berlin zu senden. Zwei Briefmarken hatte er zur Sicherheit auch dazu gepackt. 101 Jahre später, im Frühling 2014, geht die Flaschenpost einem Fischer bei Kiel ins Netz. Als Beifang, wie man so schön sagt. Dieser Beifang entpuppt sich als ganz dicker Fisch. Der Fischer Konrad Fischer (sic!) hat die derzeit älteste Flaschenpost der Welt aus dem Meer gezogen. Dann macht ein Ahnenforscher in Berlin die 62-jährige Enkelin von Richard Platz ausfindig. Und bringt ordentlich Trubel in ihr Leben. Denn die Nachricht aus der Vergangenheit geht um die Welt. Selbst in China war davon zu lesen, auch das philippinische Fernsehen brachte einen Beitrag.
Und jetzt der Kracher, der wieder mal beweist, dass die Welt ein Dorf ist: Die ominöse Enkelin des Absenders, von der in allen Berichten die Rede ist – Angela Erdmann – ist eine liebe Bekannte von mir! Ich konnte es kaum glauben, als sich Angela völlig euphorisiert bei mir meldete. Sie hatte gerade davon erfahren und schrieb mir auf Facebook: „Das war mein Opi!!! Montag kommt der erste Artikel im Spiegel, Dienstag fahre ich nach Hamburg in das große Maritim Museum … der Direktor hat mich eingeladen, denn dort ist zur Zeit die weltälteste Flaschenpost ausgestellt.“ Nachdem Angela die ersten Termine mit Spiegel, Morgenpost, Museum und Co. abgearbeitet hatte, haben wir ein bisschen über die Post aus der Vergangenheit gequatscht.
Mensch Angela, Post vom eigenen Opa, nach 101 Jahren – das bekommt man auch nicht alle Tage. Nachdem sich der erste Medienrummel langsam legt, was denkst Du jetzt?
Es ist etwas ganz besonderes für mich, denn ich kannte ja meinen Opa kaum, nur etwas von den Erzählungen meiner Mutti. Jetzt erst weiß ich, was er für ein wunderbarer Mensch war.
Wie hast Du überhaupt davon erfahren, dass der Absender der Flaschenpost Dein Opa Richard Platz war?
Ich kam von einer Radtour zurück und da stand ein Mann vor meiner Haustür und fragte, ob ich Angela bin. Ich dachte nur: Was will der mir denn jetzt verkaufen? Aber falsch gedacht. Es stellte sich heraus, dass er Familienforscher ist und als Einziger innerhalb von einer Woche mich gefunden hat. Alle anderen Journalisten bleiben an der auf der Karte angegebenen Adresse in Baumschulenweg hängen.
Warum hat denn der Ahnenforscher überhaupt nach den Nachfahren gesucht?
Er war sehr interessiert an der Flaschenpost und wollte es einfach wissen. Und er hat es geschafft, was wirklich nicht einfach war! Denn ich bin 19 Mal ungezogen und habe meinen Namen durch Heirat drei Mal gewechselt. Und trotzdem fand er mich. Das ist absoluter Wahnsinn.
Und Du hast geweint, als Du davon erfahren hast? Warum?
Ich war sehr berührt, als ich die Briefe las, die er an seine erste Tochter Gudrun schrieb.
War Richard Platz der Vater Deiner Mutter oder Deines Vaters? Bitte erklär mir mal kurz die Verwandtschaftlichen Verhältnisse, damit ich das verstehe …
Er war der Vater meiner Mutter Sieglinde und ihrer Schwester Gudrun, die 1920 geboren wurde. Meine Mutti kam 1921 zur Welt. Er liebte seine Familie über alles und versuchte sie im Sinne von gegenseitiger Liebe, Verständnis und Toleranz zu erziehen.
Dein Opi ist nicht so alt geworden … Weiß man, woran er starb?
Er war im 1. Weltkrieg, wurde verwundet, erholte sich zwar, wurde aber zucker- und herzkrank. 1946 starb er beim Wiederaufbau und Steineklopfen an einer Blinddarmentzündung.
Du selbst bist in dem Haus groß geworden, wo Dein Opi gewohnt hat. Erzähl mir davon …
Es war eine traumhafte Kindheit für mich. Meine Eltern wohnten in der Wohnung von meinem Opa dann zusammen mit meiner Oma. Ich wuchs in dem einzelnen Haus mitten im Treptower Park auf, machte meine ersten Schritte im Park, lernte mit 2 Jahren Skilaufen und danach auf dem Karpfenteich Schlittschuhlaufen, genauso wie meine Tante und meine Mutti auch. Mit 8 Jahren zogen wir dann in eine eigene Wohnung einige hundert Meter weiter.
Was war Dein Opa für ein Mensch?
Als mich Herr Godoj besuchte, rief ich während unseres Gesprächs gleich meine Cousine Dagmar an, die Tochter meiner Tante Gudi, sie suchte alle Unterlagen und Fotoalben zusammen und schickte sie mir in einem großen Paket. Ihr Hobby war auch die Ahnenforschung zu unserer Familie, die sie bis vor ca. 5 Jahren betrieb. Dadurch hatte ich jetzt sehr interessantes Material von ihr bekommen. Erst jetzt erfuhr ich, wer mein Opa wirklich war: ein großartiger Mann – er organisierte Wanderungen für die Jugend (Wandervögel) durch ganz Deutschland mit dem Rad oder zu Fuß, war Mitglied der SPD, arbeitete in der Reichskulturkammer und war zuständig für die Schulbibliothek, liebte die Literatur, war selber Schriftsteller und ein ausgesprochener Familienmensch, der seine Familie vergötterte. Auch mit seiner kleinen Familie zog er von Anfang an durch ganz Deutschland, erst zu Fuß und dann hauptsächlich mit einem Kanu, wo alle fleißig mitpaddeln mussten, später hatten sie sogar einen kleinen Außenbordmotor, was die Reisen etwas vereinfachte. Tausende von Kilometern legten sie so zurück, von Berlin an die Ostsee, nach Ostpreußen in die Heimat meiner Oma Ella, seiner Frau, oder bis zum Thüringer Wald. Übernachtet haben sie meistens in einem kleinen Zelt.
Und wie war der Moment, als Du die Flaschenpost zum ersten Mal in Händen gehalten hast?
Das war schon sehr komisch, denn sie ist ja im Internationalen Maritimen Museum in Hamburg ausgestellt und ich bekam sie von Peter Tamm, dem Gründer der Stiftung und Leiter des Museums, persönlich überreicht. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Es war einfach überwältigend.
Wem gehört die Flasche jetzt eigentlich? Rechtlich betrachtet? Dem Finder? Oder den Erben?
Das ist eine interessante Frage, die noch zu klären ist. Wenn man im Gesetzbuch nachsieht, unter Fundsachen, dann müsste sie eigentlich an die Nachfahren, also uns, übergeben werden. Was wir, meine Cousine, ihr Bruder und ich, möchten, ist, dass die Flasche und die Postkarte auf alle Fälle in diesem Museum bleiben und den Besuchern auch berichten, was für ein toller Mann unser Opa war. Dazu wollen wir dem Museum einige Fotos und Daten zur Verfügung stellen, damit die Flaschenpost ein „Gesicht“ bekommt und unser Opi einen wunderbaren Platz, wo die Menschen Interessantes über ihn erfahren.
Was hat die Post aus der Vergangenheit in Deinem eigenen Leben bewirkt?
Sie kam genau zur richtigen Zeit, denn nach meinem Crash 2010 hatte ich alles verloren, was ich mir in vielen Jahren mühevoll aufgebaut hatte – meine Eventagentur. Ich war dadurch lange krank und erst seit Mitte 2013 geht es langsam wieder bergauf. Mit Hilfe von lieben Freunden starte ich jetzt noch einmal neu durch und seine Flaschenpost sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Foto 1: Richard Platz mit ca. 27 Jahren.
Foto 2: Die Flaschenpost mit Nachricht, Postkarte und Briefmarken
Foto 3: Angela Erdmann mit der Flaschenpost ihres Opas Richard Platz
Foto 4: Verlobungsfoto 1917 – Ella Bromberg und Richard Platz
Foto 5: Ella und Richard (vorn) beim Rudern in Deutsch Eylau
Foto 6: Ella und Richard Platz mit ihren Töchtern Gudrun und Sieglinde beim Rudern …
Foto 7 & 8: … und beim Zelten
Foto 9: Richard Platz 1935 – er reist mit dem Boot 1100 km in 15 Tagen
Foto 10: Richard Platz im Reichsverband Deutscher Schriftsteller – Pseudonym: Riedel Platz
Foto 11: Ella und Richard in 1945 – ein Jahr vor Richards Tod
Foto 12: Peter Tamm vom Internationalen Maritimen Museum Hamburg und Angela Erdmann
Foto 13: Das Internationale Maritime Museum Hamburg
©Verführer – Das Beste aus Berlin | Interview: Stephanie Schneider | Fotos: ©Angela Erdmann und Familie